Tagebuch eines Pilgers

Seit drei Jahren führe ich die Finanzverwaltung für einen Mann, der an überfallartigen Angstzuständen leidet. Besonders während akuten Krisen stellte sich ihm die Frage nach dem Sinn des Lebens umso drängender. In Gesprächen versuchten wir, neue Lebensperspektiven herauszuarbeiten. Dabei reifte in ihm der Entschluss, sich auf den Pilgerweg von St. Gallen nach Santiago de Compostela zu begeben. Hier sein Tagebuch.

06.05.2007 Tag 1 St. Gallen - Schwellbrunn  
Obwohl ich Fieber habe, Nachwirkungen eines Frustbesäufnisses am Samstag und die ganze Nacht nicht geschlafen habe, entscheide ich mich trotzdem heute loszugehen, weil ich das Gefühl habe, wenn ich jetzt verschiebe, verschiebe ich Tag um Tag.Nachdem ich eine Dreiviertel-Stunde um den Dom gelatscht bin, kann ich mir in der Stiftbibliothek den ersten Stempel holen.Dann geht’s los und sobald die erste Steigung kommt, beginne ich zu sterben. Die Lungen brennen wie Feuer (5 Päckli Zigi gestern) und meine Herzfrequenz erreicht Höhen, die kein Marathonläufer kennt, was zur Folge hat, dass ich bei jeder Steigung – und es gibt nur Steigungen – das Gefühl habe zu kollabieren. Ich verfluche Zigis, Alk und den Weg.Als ich in Schwellbrunn ankomme, habe ich das Gefühl, schon in Santiago zu sein. Nach sehr guten Gesprächen mit Rolf um 20 Uhr ins Bett gegangen und geschlafen wie ein Toter.   

07.05.2007 Tag 2 Schwellbrunn – Wattwil  
Nachdem ich noch Formalitäten erledigt hatte – Nachsendeantrag, Telefon mit Beni –holte ich mir den Stempel weiter gings.Rolf hatte mir noch einen Stecken als Wanderstock geschenkt, doch davon später. Es ging wieder los wie gestern, nur nach oben, oben, oben, ich musste alle 20 Meter stehen bleiben, da ich ernsthaft Angst hatte zusammenzubrechen. Doch dann, oh wunder, war ich OBEN und ich freute mich darauf, einmal ein flaches Stück laufen zu können. Da hatte ich auch mein erstes „Pilgererlebnis“. Mit Hilfe des Stockes fand ich meinen Laufrhythmus und merkte, dass ich immer zu schnell (für mich) gelaufen war. Dann der nächste Schock. Auch abwärts laufen verursacht Leiden. Da meine Zehen nicht fähig waren, die Schuhspitze zu durchbohren, drängten sie immer mehr Richtung Ferse, was erstaunliche Auswirkungen auf meine Schuhgrösse hatte. Nun ja, mit diesem Schmerz konnte ich leben und ich begann das erste Mal meine Umgebung zu sehen und zu geniessen.In St. Peterzell ging ich einen Kaffee trinken, liess meinen Stock stehen und bis ich es bemerkte, war ich schon fast in Wattwil. So weit, so schlecht.In Wattwil angekommen machte ich mich auf die Suche nach einer Kirche, landete in einem surreal anmutenden Gelände und fand dann eine nette Gemeindesekretärin mit Stempel und auf meine Frage nach einer Unterkunft (ich dachte an eine Garage oder ähnliches) suchte sie eine Liste hervor, tätigte ein Telefon und verwies mich an Frau D.. Ich war ihr erster Pilger, sie ein Dame von ca. 70 Jahren. Sie zeigte mir mein Zimmer, fragte wie im Hotel nach meinen Wünschen und wir plauderten zusammen, bis ich wiederum um 20 Uhr schlafen ging.   

08.05.2007 Tag 3 Wattwil - Rapperswil  
Am Morgen wurde ich wieder verwöhnt und startete um 8 Uhr mit einem guten Gefühl zur bisher längsten Etappe. Dann kamen Plage 3 und 4 des leidenden Pilgers. Verwirrende, nicht existierende oder übersehene Wegweiser, mit der Folge, lange auf Asphalt zu wandern. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal riechen würde, wie schlimm Autoabgase stinken und was harter Boden mit den Knochen und Gelenken macht. Dieses Wetter, das ständig zu Garderobenwechsel auffordert – Wind, besser Sturm, Regen, strahlende Sonne. Punkt, ab jetzt werde ich nicht mehr jammern. Etwa 3 Kilometer vor Rappi beschloss ich, dass es so nicht weitergeht, trank in einer Beiz einen Most und wartete auf den Bus.Hier angekommen suchte ich eine Kirche, fand ein Kloster und wurde als Pilger aufgenommen. Nach Abwerfen von Rucksack und Schuhen, zwei Dinge, die ich in Santiago feierlich verbrennen werde, ging ich in die Stadt, um eine Kneipe zu suchen. Stattdessen traf ich meine ersten Mitpilger, eine Gruppe – tata! – schwäbischer Frauen. Nach kurzem Plausch ging ich weiter, um zu schreiben und ein Bier zu trinken, fand nur Schicki-Micki Bars und Touri-Restaurants und suchte exakt eine Stunde, bis ich die Beiz fand, wo ich jetzt sitze. Ab 19 Uhr kann ich wieder ins Kloster, werde dann duschen, etwas lesen und tschüss, denn morgen geht’s nach Einsiedeln (falls ich laufen kann).   

09.05.2007 Tag 4 Rapperswil – Einsiedeln  
Heute morgen Frühstück im Kloster mit guten und lustigen Gesprächen mit einem Mönch. Dann los um 7.30 Uhr und ca. um 12 Uhr in Einsiedeln. Jetzt kommt kein Gejammer über Berge und Schmerzen.Dafür heiliger Zorn über dieses Dorf und das Kloster. Ich hatte naiv geglaubt, dies sei ein „heiliges“ Kloster mit ein paar Häusern drumherum, gefunden habe ich ein abzockerisches Dorf und einen religiösen Supermarkt. Rund um das Kloster Devotionalienstände, Jesus hätte mit Freude eine Geissel geknüpft und das ganze Pack weggejagt. Auf meine Frage beim Tourismusbüro wurde geantwortet, das Kloster nehme niemanden auf und der billigste Schlafplatz koste 38.50 Fr.. Daraufhin sass ich wütend vor dem Kloster und überlegte, das Geld in eine Flasche Wein zu investieren. Als ich einen Mann in einer Kutte sah, ging ich auf ihn zu und schlug ihm vor, sie sollten ein Schild aufstellen, dass hier nur Reiche willkommen seien und dass Gebet und der Spruch Jesu, dass wer einen Fremden aufnehme usw. hier wohl ausser Kraft wären.Nach einigen sehr verlegenen Windungen schiebt er mich an die Klosterpforte. Hier stellt sich heraus, dass es sehr wohl Pilgerzimmer gibt, die 25.50 Fr. kosten. Als ich sagte, dies sei mein Tagesbudget und ich im Klostergarten schlafen werde, gab er mir gratis ein Bett in einem 10-Bett-Zimmer sowie ein Mittagessen. Danke . Der Kapitalismus regiert die kath. Kirche noch nicht ganz, es gibt Hoffnung. Nun schreibe ich bei einem Bier, denke, dass ich gegen 19 Uhr im Bett bin und morgen früh losgehe.   

10.05.2007 Tag 5 Einsiedeln – Luzern - Malters  
Das mit 19 Uhr im Bett war Illusion, bin bis 22.30 verhockt, bei einem interessanten Gespräch und zuviel Bier. Dennoch morgens um 5 Uhr aufgewacht und gleich los.Nach einer kostspieligen Schiffahrt in Luzern abgekommen. Ich fühlte mich wie ein Appenzeller Bauer, der das erste Mal in New York ist. So viele Menschen, Verkehr, Hektik. Dann den Stempel holen und nach Quartier fragen. Ich wurde so unfreundlich und kalt behandelt, als sei ich Penner und nicht Pilger. Darauf beschloss ich, mit dem Zug aufs Land, d.h. nach Malters, zu fahren. Der Pfarrer dort gab mir ein Zimmer im Pfarreiheim, auf dem Boden schlafen, aber immerhin. Doch lege mich um 18 Uhr hin und will nichts mehr von der bösen Welt wissen.

Tagebuch eines Pilgers, Teil 2

Lesen Sie hier die Fortsetzung.

11.05.2007 Tag 6 Malters – Willisau
Morgens um 06.00 Uhr in Malters los, zuerst schöne lange Strecke am Fluss entlang, dann steil, gerade, steil. Ein paar Kilometer vor Willisau ging gar nichts mehr, Autostop und zu einer Frau einsteigen, die so viele Probleme hatte, dass ich ein seelsorgerisches Gespräch einfliessen lassen musste (das ist ernst gemeint). Danach Ankunft im Pfarramt, sehr liebe Leute dort, etwas warten, dann kam der Pfarrer, er sagte: „Hallo!“ und ich sagte: „Oha, au än Schwob!“. Darauf er: “Ha, wo komsch denn du her?“
Dann bekam ich eine Wohnung für mich allein, wunderschön, heisses Bad und damit für 30 Minuten keine Schmerzen. Danach dann ein Problem; ich habe ausser dem Pilgerführer kein Buch dabei und hier gab es keines. Kein Geld für eine Beiz, was mache ich den ganzen restlichen Abend mit mir allein? 

12.05.2007 Tag 7 Willisau – Huttwil
Am Morgen Schlüssel zurückgebracht, 10.-SFR Migros-Gutschein bekommen und ab.
Heute habe ich das erste Mal das Gefühl, den Weg, das Wandern und mich selbst zu geniessen. Und ich merke, dass Gottesvertrauen durchaus „funktioniert“. Am Mittag komme ich an einem arbeitenden Bauern vorbei, kurzes Gespräch, 10 Minuten später holt er mich mit seinem Mofa ein und fragt, ob ich Lust auf eine Kaffeepause hätte und daraus wird eine Stunde mit seiner Familie, zwei Riesensandwichs für den Weg und vielem Reden. Ich sage: „Bevor ihr mir auch noch den Hof schenkt, muss ich gehen“ und verspreche eine Karte aus Santiago zu schicken. Überglücklich von der Freundlichkeit dieser Menschen stören mich die restlichen schweren Kilometer überhaupt nicht mehr.
Dann gegen 16.00 Uhr in Huttwil, im katholischen Pfarramt niemand da – reformiertes dicht gegenüber, kein Schwein. Nach einiger Zeit kommen die Töchter des reformierten Pfarrers und sagen, ihre Eltern kämen heute nicht mehr, schenken mir dafür zum Trost ein Bier. Warten. Nach einiger Zeit probiere ich es nochmals beim katholischen Kollegen, ein Jugoslawe öffnet, sagt, es gäbe keinen Pfarrer, den Stempel könne er mir aber geben.
Frustversuch bei der Heilsarmee, wo ich recht schroff zurückgewiesen wurde. Nach einigem Medititeren über die Funktionalität obengenannten Gottvertrauens, beschliesse ich, im Wald zu übernachten. Auf dem Weg dahin komme ich an einer Methodistenkirche vorbei, klingle, eine Frau (Susanne) sieht mich an und sagt: „Komm rein, du siehst aus, als ob du ein Bett brauchst“ und hier schreibe ich nun mit einem vorzüglichen Nachtessen im Bauch.
Und jetzt ins Bett, morgen mehr über diese Leute.  

13.05. 2007 Tag 8 Huttwil – Sumiswald
Gestern habe ich noch bemerkt, dass Christof, Susannes Ehemann, ein bekannter Musiker ist, er musste von einem Konzert direkt zum nächsten (neues Werk: über das Labyrinth der Kathedrale von Chartres). Da Muttertag ist schläft lange Susanne aus, hat mir aber im Gemeindesaal ein komfortables Frühstück vorbereitet.
Dann früh weiter, da ich eine Abkürzung nehmen will, verlaufe ich mich und lande gegen Mittag in einem Dorf, das genau so gut in Papa-Neuguinea liegen könnte – keine Verbindung zur Zivilisation.
Meine Füsse sagen eindeutig, dass ich nicht weitergehen kann. Lange Pause. Mir kommt eine Zeile aus einem Rocky-Film-Lied in den Sinn: „Though your body says stop, your spirit cries NEVER“.
Also nach dem Weg fragen und nach Sumiswald weiterkriechen. Als ich die Kirche vom Ort sehe, sehe ich auch einen Abstieg, der meine Kniegelenke für immer zerstören wird.
Da eine grosse Kinderschar ums Pfarrhaus tobt, traue ich mich – obwohl Sonntag und ich bewegungsmässig eher in einen Zombiefilm passen würde – nach dem Pfarrer zu fragen. Max und Doro nehmen mich auf, als ob wir uns seit Jahren kennen würden: Da ist der Kühlschrank, dort dieses und jenes, mach was du willst“. Die beiden sind jung, tief gläubig, unheimlich offen und einfach lieb. Sumiswald ist das erst Dorf, in dem ich mir vorstellen könnte, nach meiner Rückkehr zu leben.
Zwischenbilanz meiner Woche: 
Meine Kondition verbessert sich zusehends, meine Knochen und Gelenke brauchen noch eine Weile.
Mit Gottesvertrauen, Höflichkeit und Ehrlichkeit wird man auf wundersame Weise zu lieben Menschen geführt. 
Ich lerne den Pilgerführer zu verstehen: „abwechslungsreiche Streckenführung“ bedeutet: rauf-runter, Asphaltstrasse– rauf-runter; „interessante Etappe“ heisst soviel wie: „Du wirst heute ein Nahtod-Erlebnis haben.“

Ich werde das Tagebuch in Zukunft dreiteilen: 
1. Da das Laufen immer gleich ist, stichwortartige Beschreibung meiner Strecke, Wetter und Körperzustand.
2. Begegnungen 
3. Falls vorhanden: philosophisch-theologische Betrachtungen   

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 3

Lesen Sie hier die dritte Fortsetzung.

14.05. 2007 Tag 9 Sumiswald-Schafhausen – Burgdorf
1. Will nur kurze Strecke gehen, um dem Körper eine Erholung zu gönnen – Schafhausen hat keine Kirche, also doch weiter nach Bugdorf, Unterkunft auf dem Boden im Pfarreiheim.
2. Da ich geldmässig auf absolut Null bin, lasse ich mich von Punks, Junkies und Alkis zu Bier und Zigaretten einladen. Interessanterweise heisst deren Treffpunkt auch hier Neumarkt. Ich habe kein gutes Gefühl, aber es ist notwendig. Zurück in meinem Quartier erlebe ich ein Wunder. Als ich mein letztes Sandwich der Bauernfamilie auspacke, finde ich als Beilage zum Schinkenbrot eine Fünfzigernote. Wow. Voller Dankbarkeit gehe ich schlafen.  


15.05.2007 Tag 10 Burgdorf – Bern/Muri
1. Der Regen tröpfelt nur leicht – an das Auf und Ab bin ich langsam gewöhnt – von Bern mit dem Tram nach Muri.
2. Als in Muri der Pfarrer öffnet, denke ich zweierlei. Erstens: Der Typ ist ein Zwillingsbruder des Fernsehpfarrers „Fliege“. Zweitens: Den scheisst es gewaltig an, dass ich vor seiner Tür stehe (was er mir später bestätigt). Er lädt mich dann doch zum Kaffee ein, sagt, mein nettes Lächeln hätte ihn überzeugt, mich rein zu lassen – wieso funktioniert dieses Lächeln bei verheirateten Pfarrern und nicht bei schönen, jungen und reichen Frauen?
Wir kamen ins Gespräch miteinander und als ich beiläufig erwähne, warum ich eine IV-Rente habe, erzählt er mir, dass er seit Jahren unter Panikattacken leide, es aber langsam besser gehe. So verbringen wir ca. 2 Stunden im Gespräch über unser gemeinsames Leiden, es ist völlig anders als mit anderen Pfarrern, er ist politisch sehr links (gutes Gefühl) und ziemlich esoterisch angehaucht. 
Ich bin plötzlich wieder auf meine Krankheit – er bezeichnet es auch nicht nur als psychisches Problem – zurückgeworfen; ich habe sie bisher aus meinen Gedanken verbannt – sogar dreimal vergessen, die Medis zu nehmen. Nachdenklich gehe ich ins kalte Gemeindezentrum, um auf einem kalten Boden zu schlafen.  

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 4

Lesen Sie hier eine weitere Fortsetzung.

16.05.2007 Tag 11 Muri – St.Antoni
1. In eisiger Kälte aufgewacht in ebensolcher weitermarschiert – gleich am Anfang Frust, weil ich für eine Strecke von (Luftlinie) 2 km fast 3 Stunden brauchte, da die Fähre über die Aare noch nicht geht und ich fast bis nach Bern zurücklaufen muss um diese zu überqueren. Dafür eine schöne Strecke entlang des Tierparks mit Aussengehegen – weiter nach Schwarzenburg – keine Unterkunft – weiter nach Heitenried (dito) – nach St. Antoni – schlafen im Bildungszentrum Burgbühl.
2. Ich mag die pragmatische Weltlichkeit katholischer Priester. In Heitenried gibt mir derselbe CHF 20.-, um in Burgbühl übernachten zu können, so im Sinne von: „Da hast du 20 Stutz und jetzt lass mich in Frieden“.
Hier angekommen, sehr freundlicher Empfang durch den Hauswart, ein kleines Wiesel, das blitzschnell alles für mich parat macht und mich nach Regen und Kälte in ein warmes Zimmer mit einer heissen Dusche führt. Ich lese noch lange, schreibe dies und gehe jetzt ins warme Bett.

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 5

Lesen Sie hier eine weitere Fortsetzung.

17.05.07 Tag 12, St. Antoni – Freiburg

1. Schöne Strecke – meine Kondition wird besser – Regen, Kälte – grandios verlaufen... (vermutlich wegen des tief in die Stirn gezogenen Hutes) – deswegen nur nach Freiburg – in der (wunderschönen) Stadt wieder verlaufen.

2. Die Quartierssuche ist lang und frustrierend, schliesslich verweist mich ein Mann auf der Strasse an die Notschlafstelle. Obwohl ich dabei kein gutes Gefühl habe, geben mir meine Füsse zu verstehen, dass ich keine andere Möglichkeit habe. Dort angekommen sehe ich eigentlich das Bild, das ich erwartet habe: Menschen, die entweder völlig dicht oder sonst kaputt sind. Obwohl ich die meisten „Gassenkinder“ in St. Gallen kenne, ist es für mich doch eine neue Erfahrung, die Nachtseite dieses Lebens kennen zu lernen. Vor dem Nachtessen (Suppe, Salat, selbstgemachte Pizza) kommt noch einer – Urs, der deutsch spricht. Er ist Ex-Alkijunkie und während des Abwaschs reden wir über psychische Probleme, Drogen und verschiedene Lebensentwürfe.
Ich nehme mir noch das einzig verfügbare deutsche Buch „Der kleine Hobbitt“ mit ins Bett und beschliesse, es mitzunehmen (trotz des Gewichts), um wenigstens etwas lesen zu können, wenn ich in den nächsten Monaten vermutlich mit sehr wenigen Menschen sprechen kann.

3. Ich habe bisher nur „Pilger“ getroffen, die sozusagen teilzeit unterwegs waren, für 3 Tage bis 3 Wochen; heute nun treffe ich eine ca. 20-köpfige Gruppe aus Uznach, aber die Gespräche bleiben oberflächlich. Ich verstehe, dass man aus verschiedenen Gründen unterwegs sein kann (Sport, Tourismus, Kultur), aber ich sehne mich danach, jemanden zu treffen, der aus dem gleichen Gründen unterwegs ist wie ich.

Michael Blattert     

Tagebuch eines Pilgers, Teil 6

Lesen Sie hier eine weitere Fortsetzung.

18. 05. 2007, Tag 13, Fribourg- Romont
Nach dem Frühstück los – Wetter heiss (also Sonnenbrand), Strecke schön (aber Asphalt) und eben, nur kurz vor Romont muss ich fast rennen (den steilen Berg rauf), damit ich noch einkaufen kann – ca. 8 Stunden unterwegs.
Nichts grosses, ausser dass ich der tags zuvor erwähnten Gruppe mehrmals wieder begegnet bin. Sie rasen jeweils an mir vorbei, doch nach einiger Zeit sind wir wieder gleich weit. Also nehme ich es lieber in meinem (langsamen) Tempo.
Ich merke, dass ich gestern noch etwas neidisch auf sie war – sie wussten, wie lange noch, wo schlafen usw. Heute fühle ich mich eher im Vorteil, weil ich völlig frei bin. Diese Freiheit bedeutet aber auch, draussen schlafen zu müssen, was ich jetzt tun werde.

19.05.2007, Tag 14. Romont-Moudon
Das vorher erwähnte Übernachten im Freien vollzog sich übrigens auf einem Spielplatz, 5m links Kühe, 15m rechts ein riesiger uralter Schuldenturm, was mich an St. Gallen erinnerte und dankbar machte, dass es heutzutage Betreibungsämter gibt.

Am Morgen in Eiskälte erwacht – noch vor Sonnenaufgang weiter – schöne, ebene Strecke bis Moudon bei gewaltiger Hitze (Resultat unter Punkt 2).
Hier sehe ich zum letzten Mal meine Uznacher wieder; inzwischen habe ich mit einigen von ihnen einen freundschaftlichen Umgang. Diese machen mich auf meine Arme aufmerksam und wollen mich zum Arzt schicken. Und erst jetzt merke ich, dass Sonnenbrand noch etwas anderes als Schmerzen bedeutet: Meine Unterarme sehen tatsächlich aus (kein Scherz), als hätte ich sie in einer Friteuse gebadet. Ich versuche, mir nicht allzu sehr leid zu tun, da ich sonst meine Dummheit eingestehen müsste (zur Verteidigung: meinen letzten, wesentlich leichteren Sonnenbrand hatte ich vor 35 Jahren).
Als ich vor der Klinik sitze, meinen Coop-Süssmost trinke (ein vorzügliches Pilgergetränk, wenn man am Ziel ist), komme ich ins Gespräch mit Dominique und Beatrice aus Lausanne, die sehr gut Englisch sprechen. Wir sprechen über dies und jenes, und als sie meine Arme sehen, schleppen sie mich ohne Widerspruch zur nächsten Apotheke. Dort will man mich für 2 Tage ins Spital schicken, was ich mit der Bemerkung „ich habe einen Weg zu gehen“ unterbinden kann. Also verarztet man mich dort, Bea bezahlt die Medikamente und Binden, die ich jetzt noch mitschleppen muss. Ich sehe armenmässig wie eine Mumie aus. Als ich zwecks Kostenrückerstattung um eine Adresse bitte, höre ich die erstaunliche Weisheit, man solle nichts demjenigen zurückgeben, der einem geholfen hat, sondern jemandem anderen etwas Gutes tun. Ich hoffe, ich werde Gelegenheit dazu bekommen. Danach herzlicher Abschied. Nach einem Abstecher zur Heilsarmee ist mir das Schlafproblem ziemlich egal, ich lege mich neben einem Campingplatz zur Ruhe.

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 7

Nach längerem Unterbruch meldet sich der Pilger wieder. Lesen Sie hier die Fortsetzung.

21.05.2007  Tag 16, Montprevyres – Lausanne/Vidy
Relativ einfacher Weg – Sonne ohne Unterbuch – steiler Abstieg nach   Lausanne-Zentrum – wäre ohne Rucksack und Wanderschuhe eine Besichtigung wert. Am Bahnhof Lausanne sehe ich ein SOS- (Bahnhofshilfe) Schild und im Vertrauen auf dort vorhandene Fremdsprachenkenntnisse wende ich mich dorthin. Die Dame dort versteht nur Französisch, sitzt in Socken in einem chaotischen kleinen Büro und verweist mich nach meinen Erklärungen (mein Französisch, meine Hände und Füsse) an die Polizei und bringt mich auch dorthin. Nachdem ich klargemacht habe, dass ich Pilger und nicht – wie angenommen – Vagabund bin, meinen Pilgerpass und Führer gezeigt habe, erklärt mir der freundliche Herr ca. eine halbe Stunde lang wo er überall schon gewesen sei,was ich mir anschauen müsse usw. (ich verstehe etwa jedes 1. Wort ), und dass ich da und dort (in Lausanne) draussen schlafen könne und eventuell eine Ente killen und braten solle. Derart moralisch aufgerüstet fahre ich mit dem Bus in den Vorort Vidy (Haltestelle Maladiere!), finde einen belebten Sportplatz, picknicke und lese dort. Ich sehe eine Tribüne, die mir als Schlafplatz ideal erscheint und es mit Sicherheit ein Gewitter geben wird, frage ich noch schnell den Platzwart , ob ich dort übernachten könne. Kurz bevor obengennntes ausbricht, bin ich unterm Dach und lese meinen kleinen Hobbit. Mit Sicherheit ist es eines der schrecklichsten Gewitter Mitteleuropas, aber plötzlich überkommt mich grosse Ruhe, und obwohl den ganzen Tag ziemlich deprimiert, fühle ich mich zwischen Donner, Blitz und kübelweise Regen absolut im Frieden, kurz: sauwohl.

 22.05.2007  Tag 17, Vidy - Morges - Allaman
1. Aufwachen vor Sonnenaufgang – schöner gerader Weg am See entlang – in Morges kein Quartier, also weiter nach Allaman – Zimmer in Weingut
2. Gestern hat sich noch, kurz bevor ich eingeschlafen bin, jemand unter „mein“ Dach gelegt. Ich sehe ihn kurz am Morgen, als ich am See meine Morgenzigi rauche und mit Vögeln, Eichhörnchen und Eidechsen rede. Dann am See nach Morges (Telefon mit Feli, die mir einen schönen Schreck eingejagt hat, als sie gestern nicht da war), aber Geld ist da und ich beschliesse einen Ruhetag mit einem Zimmer und ausgiebiger Körperpflege (5 Tage nicht geduscht) einzulegen. Da es in Morges (herziges Städtchen ohne McDonald und Starbucks) nichts gibt, lasse ich bei der Tourist-Information ein Zimmer in Allaman reservieren.Ich stelle fest, dort angekommen, dass ich mich auf einem Weingut befinde, die Chefin spricht nur französisch, und die Einrichtung erinnert mich an meine Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Aber ich kann ausgiebig duschen, meine Wäsche waschen, gehe noch im Coop einkaufen, ein Bier trinken und dann ins Zimmer. Am Nachmittag hatte ich noch einen halben Liter des hauseigenen Rotweins bestellt, der nun auf der Treppe steht. Ich schreibe dies nun, während ich den sehr guten Wein geniesse, werde anschliessend meinen Hobbit fertig lesen (ich muss mir unbedingt ein deutsches oder englisches Buch besorgen,ohne Lesen kann ich nicht sein) und anschliessend in hoffentlich schöne Träume flüchten.

23.05.2007  Tag 18, Allaman – Nyon
1. wieder Hitze, ich laufe heute wieder ohne Verband, ob das gut ist ? - nur Asphaltstrasse, aber wenigstens ohne Auf und Ab. Am Morgen gab es ein ausgezeichnetes Frühstück. Danach habe ich noch gewartet bis die Wäsche halbwegs getrocknet war, Nägel geschnitten und meinen geschundenen Körper gepflegt. Dann bis Nyon, wo ich jetzt beim Bier sitze und schreibe. Nachher noch Einkaufen, vielleicht etwas Kleines essen. Dann (es sieht schon wieder nach Gewitter aus) Schlafplatz suchen auf dem Weg zum nächsten Dorf. Ich bin zu faul um einen Stempel zu holen -was ich schon seit einer Weile nicht mehr regelmässig mache- und freue mich auf ein schönes Plätzchen im Freien, das gibt doch ein gewisses Abenteurer -Feeling. 

 Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 8

Lesen Sie hier eine weitere Fortsetzung.

25.05.2007  20. Tag, Neydens – Frangy
Muss wegen Bank fast bis Genf zurück – grosser Anschiss – habe keine Lust zu schreiben - Frustration. Depressivität, das klappt nie“ - Gefühl.

26.05.2007  21. Tag, Frangy – Seyssel
Im Wald nahe Fluss geschlafen – gute Stimmung obwohl der Rucksack voller Maden ist und in meinen Haaren eine fette Schnecke geschlafen hat – sehr, sehr früh los (ca. 4 h) – relativ anständiger Weg im Gegensatz zu gestern.

Gestern Abend wurde meine Stimmung wieder besser, nachdem ich erstens entdeckt habe, dass man hier Sachen zum Essen bekommt, die in der Schweiz viel teurer sind und Wein billiger als Bier ist. Zudem habe ich noch einer Übung der Feuerwehrjugend (ca. 10-14jährig) zugesehen. Obwohl alles fast militärisch diszipliniert abläuft (strammstehen, kurze, laute Befehle, marschieren) schien es allen Spaß zu machen und es sah nach großem Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl aus. Vielleicht liegt es an solchen Dingen, dass ich bisher keine Alk-oder Junkszene entdeckt habe. Vielleicht aber auch daran, dass hier jeder von früh bis spät Wein oder Pastis zu sich nimmt.

Obwohl ich vor etwa 12 Jahren mit dem Velo (und Marianne) in Frankreich war, muss ich mich erstmal wieder an manches gewöhnen. Als da wären: Umweltbewusstsein >= 0 (hier wirft jeder alles in die Landschaft weil es keine Abfallkübel gibt - oder gibt es diese nicht, weil sie doch keiner benutzen würde); Autofahrstil suizidal beeinflusst; Patriotismus, Militarismus und Fremdsprachenverweigerung wie in Amerika, allerdings sympathischer. Doch Alles in Allem freue ich mich jetzt hier zu sein. Die Leute sind freundlich, wenn man sie anspricht, ansonsten beachten sie einen nicht. Da ich sehr früh angekommen bin,  schreibe ich dies beim Kaffee (sehr gut, stark und deutlich billiger als noch vorgestern). Ich weiß noch nicht, was ich den Rest des Tages mache – außer für 3 Tage einkaufen -, somit werde ich später weiterschreiben.

Ok, jetzt geht’s weiter. Nachdem ich eine Pilgerherberge (nach dem Führer) gesucht und gefunden habe, erfahre ich, dass diese nicht mehr existiert. Nun gut, also draußen schlafen (weiterhin). Da ich spüre, dass ein Gewitter kommt, suche ich einen Schlafplatz mit einem Unterstand in der Nähe.Ich komme mir langsam vor wie Bilbo Beutlin (für Ungebildete: der Held in „Der kleine Hobbit“). Ich sehne mich immer wieder nach meiner kleinen Hobbithöhle, wo es warm ist und die Speisekammer gefüllt. Aber ich weiß, obschon so manches Abenteuer bestanden ist, dass noch ein Drache besiegt werden muss (in welchem Berg der auch immer wohnen mag und wie immer er auch aussieht,) und dass die grosse Schlacht zwischen Gut und Böse erst noch geschlagen werden muss, was allerdings erst Zuhause (wo mag das sein) geschehen wird. Also esse ich jetzt noch was – Dosenfutter für die nächsten 2-3 Tage – und bereite mich darauf vor, auf Beton, aber zumindest unter einem Dach, zu schlafen.
 
Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 9

Der Drache ist tot! Eine weitere spannende Folge aus dem Tagebuch des Pilgers.

27.05.2007  22. Tag, Immer noch Seyssel

Der Drache ist tot!
Was ich jetzt schreibe, ist so unglaublich, dass ich vollkommen verstehe, wenn es mir keiner glauben wird. Die Allermeisten werden es für eine drogeninduzierte Fantasie halten (obwohl ich bezweifle, dass Lysergsäure-Diäthylamid zu den erlaubten Zusatzstoffen im franz. Wein gehört). Viele werden denken, dass ich mir einfach eine spannende Story einfallen lies. Nur ganz, ganz wenige werden mir glauben, und auch die werden es nie verstehen können, auch wenn ich damit Dutzende Bücher füllen würde (und ziemlich sicher auch werde). Kurz gesagt: Ich hatte ein spirituelles, mystisches Erlebnis von unglaublichen Ausmassen.

Achtung: Ab hier für metaphysisch nicht Interessierte langweilig. Ich verweise auf das Buch meines Kollegen Kerkeling.

Ich war eigentlich mit sehr weltlichen Dingen beschäftigt (wie werde ich dies kalte, stürmische Nacht überstehen, reichen meine Zigaretten für morgen usw.). Schon seit einigen Stunden hatte ich ein seltsames Gefühl.  Bis auf die Zeit der gestrigen Eintragungen war mein Verstand ziemlich leer (ein von Zazen Praktizierenden angestrebter Zustand) und ich schwebte auf einer durch die äusseren Umstände nicht erklärbaren Wolke der Glückseligkeit (kaum durch ca. 1 dl Wein erklärbar).

Plötzlich stand die Zeit still und war gleichzeitig unendlich lang. Obwohl meine Sinneswahrnehmungen absolut gleich blieben, war ich sowohl ausserhalb meines Körpers als auch ganz tief in mir. Dann kamen Gedanken, die mit absoluter Sicherheit nicht von mir stammten. Ich verstand die Funktionsweise des Universums, ich verstand die Pläne Gottes mit mir und der Welt, ich wusste, was in meinem Leben schief gelaufen war und warum. Ich sah, dass nichts und niemand auf dieser Welt mir etwas antun kann, weder die Widrigkeiten des täglichen Lebens, nicht Personen und Institutionen, nicht Faschos, Al Qaida oder George W., nicht einmal der Tod. Eigentlich bin ich nur ein Toter auf Urlaub (die Worte bei meiner Taufe: "Ich taufe Dich in den Tod; Paulus: Tod, wo ist dein Stachel", bekommen Sinn). Ich sah, dass ich mir täglich meine Realität selbst erschaffe. Es war, als hätte man mir 1000 Weisheitsbücher auf einmal geschenkt (in die ich nur einen kurzen Blick hatte werfen können) mit dem Auftrag, sie den Rest meines Lebens zu studieren und sie Schritt für Schritt umzusetzen.

Fazit: Ab heute wird dieses Buch völlig anders aussehen. Es ist vollkommen egal wann, wie, auf welcher Strecke und auf welche Weise, ja sogar ob ich überhaupt Santiago erreiche. Das Wetter und die Strecke, der Zustand meines Körpers und Geistes ändern sich ständig. Schon morgen ist deren Beschreibung unbedeutende Vergangenheit. Die Strecke ist in jedem Pilgerführer beschrieben und meinen physischen Weg kann ich durch die Stempel in meinem Pilgerpass grob nachvollziehen. Ich werde nur noch Ereignisse, Begegnungen, Gespräche und Gedanken aufführen, die Bedeutung haben oder in Zukunft haben könnten. Wäre ich in Therapie, könnte ich heute nach genau 3 Wochen sagen: Oh Freunde, das war's. Therapieziel erreicht. Aber ich weiss, der Weg geht weiter, wie lange weiss ich nicht (und will es auch nicht wissen), und solange ich auf dem Weg bin, bin ich auf wunderbare Weise vor Angstanfällen geschützt. Was jetzt noch kommt, dient allein dem Ausarbeiten der gewonnen Erkenntnissen sowie dem Ausprobieren und der Festigung neuer Verhaltensweisen.

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 10

Es geht weiter. Hier die nächste Folge vom Pilger.

01.06.2007
Ich habe mich wieder an den französischen Lebensstil gewöhnt, aber es ist unmöglich mit meinem Budget hier zu leben. Ich habe mich heute mal wieder eingemietet, bei einer sehr netten älteren Frau (nur franz.). Da es seit Tagen ununterbrochen regnet – einmal hatte es am Morgen 0 Grad – musste einmal wieder ein geschütztes Zimmer sein.

Alles hier in Frankreich – zumindest in den ländlichen Gegenden -  ist sehr ärmlich, von den Gebäuden und Strassen bis zur Kleidung der Leute. Und dennoch hat alles einen gewissen Charme. Hier lebt, soweit ich beurteilen kann, jeder am Rande des Existenzminimums. Hilfe kann ich hier keine erwarten, selbst die Pfarrer leben unter aller Sau. Das habe ich gesehen, als ich vorgestern nachts um 21 Uhr in einem kleinen Dorf ankam, bei strömenden Regen, und ich einfach nichts zum Schlafen mit wenigstens einem kleinen Dach fand. Ich flüchtete mich unter eine kleine Bushaltestelle zu vier knutschenden Teenies (Busse gibt es hier nur für Schüler, so etwas wie öffentlichen Nahverkehr geht es nicht). Nachdem ich meine Situation geschildert hatte, gingen zwei zum Pfarrer, und der liess mich in der Kirche hinter dem Altar schlafen.
Um auf die Armut zurückzukommen: Der Pfarrer wohnte in einem leicht verfallenen Haus, und die Einrichtung hätte jedem Fürsorgeempfänger Tränen des Mitleids in die Augen getrieben.

Nun, weiter zu den Franzosen. Soweit ich sehe, entspricht jedes Klischee der Wahrheit. Jeden Morgen ab 7 Uhr bevölkern Zeitung- und Baguette tragende Menschen die Strasse, die meisten mit einer Zigarette im Mundwinkel. Wenn ein weiteres Vorurteil stimmt, werden die sexbesessenen Franzosen die Schleimspuren in meinem Haar eher für Reste cunlingualer Tätigkeit als für Schneckenattacken halten.

Der Weg ist schön und abwechslungsreich (ich weiss, ich wollte so etwas nicht mehr schreiben), die Landschaft und die Dörfer, die aussehen, als hätte man seit dem zweiten Weltkrieg nichts mehr daran gemacht, gefallen mir im Gegensatz zur schweizerischen Sterilität sehr.
Dies schreibe ich, um zu verdeutlichen, dass der in mir reifende Entschluss noch bis Le Puy zu gehen und dann zu trampen, nichts mit Anschiss, sondern mit Geldnot zu tun hat. Und trotz der Geldnot bin ich gezwungen zweimal täglich ein Bistro aufzusuchen. Und dies wegen dem zweiten französischen Übel. Es gibt hier zwar überaus viele öffentliche WC’s, aber alle mit der in südlichen Ländern üblicher Hock-Toilette. Obwohl ein altes chinesisches Sprichwort besagt: Wer unbeflucht auf einer französischen Toilette scheissen kann, der kann alles in der Welt erreichen , habe ich den Gedanken an Weltherrschaft nach einem Versuch, mit dem Ergebnis einer vollgepinkelten Hose, aufgegeben. Also muss ich ein Café aufsuchen, und da manche von diesen nur mit so unsäglichen Dingern ausgestattet sind, des öfteren noch ein zweites.

Zum Übrigen habe ich gestern noch zwei deutsche Frauen kennengelernt, die auf dem Rückweg aus Spanien waren. Sie haben den Weg nicht fertig gemacht, weil sie den Massenandrang von Pilgern auf dem Weg und die Abfertigung in den Herbergen nicht mehr ertragen konnten. Für meine Erfahrung unverständlich, da ich bisher kaum Pilger sah und mit den wenigsten kurz sprach. Nun ja, wir werden sehen.


05.06.2007   Montfaucon
Wieder in einer Unterkunft (Gîte d‘étape). Nach weiterem eiskalten Regen und einer inzwischen gewaltigen Erkältung, muss ich früher als gedacht ins Warme. Ich bin früh losgelaufen und war somit auch ebenso früh im Ort, weswegen ich noch Frederiw kennenlerne, ein Weltenbummler, der in Altstätten in einem Wohnwagen haust und sonst ständig unterwegs ist. Wir reden lange Zeit miteinander und nach einem! Glas Wein kenne ich seine ganze Lebensgeschichte. Nach ein paar Gläser mehr zieht er weiter. Der Typ ist unverwüstlich, obwohl er 59 Jahre alt ist.

Ich freue mich auf ein warmes Bett und dann kommt der erste Schock in Bezug auf andere Pilger. Während ich nur kurz weg war, um einzukaufen, war eine Truppe Möchtegern-Pilger eingetroffen. Nach meiner ersten Freude vor der Herberge Reutlinger-Autos zu sehen, kam die Ernüchterung. Sie hätten sich wie die Heuschrecken über alles hergemacht, die Küche und Duschen besetzt und alles, was sie ausgepackt hatten, gleichmässig verteilt. Sie hatten ihre Teller dabei (die Herberge ist vorzüglich eingerichtet) und alle Lebensmittel kamen aus Deutschland, sogar der Wein. Als mir dann noch der Chef sagte, dass, wenn ich mich etwas mehr pflegen würde, ich mit ihnen essen könne. Ich sagte, sie können gerne alleine essen, ich würde noch duschen, raus in die Kälte gehen, um zu rauchen und noch eines zu trinken und dann schlafen. Doch damit war es nichts, denn sie feierten noch bis Mitternacht, inklusive Absingen katholischer Kirchenlieder. (Dieses Pilgern bestand im Übrigen darin, ca. 10 km am Tag zu laufen – mit 2 kg Rucksack – und den Rest mit dem Bus zu fahren.)

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 11

Der Pilger ist weiterhin unterwegs auf dem Jakobsweg und bald an der französisch-spanischen Grenze.

08.06.2007
Nachdem ich in Le Puy Frederiw und andere wiedergetroffen habe, was allerdings nur ein kurzer Unterbruch war, werde ich jetzt per Autostop weiterfahren. Da ich seit Tagen unterwegs „Me and Bobby McGee“ von der verehrten Frau Joplin singe, beschliesse ich dieses Lied zur offiziellen Jakobsweg-Hymne  zu machen. (Ich hoffe, dieser Satz wird so verstanden, wie ich ihn gemeint habe).

09.06.2007
Zwei Tage trampen und ich bin durch Frankreich. Ich hatte immer Glück und musste nie lange warten. Hitchhiking hat seine Vorteile. Da immer nur englischsprechende Menschen anhielten, erfuhr ich sehr viel über das Land, die Politik, die Geschichte und das ganze Gesellschaftssystem. Interessant fand ich – war mir schon selbst aufgefallen – dass die Geschäfte eine klare Aufgabensteuerung  – zumindest auf dem Land – haben. Die Bistros und (Super-) Märkte verkaufen keinen Tabak, so dass die Tabakhändler sein kleines Auskommen hat. Ebenso mit Brot, Früchten usw. So ist mehr Leuten ein Einkommen gesichert. Auch die Märkte sind sehr interessant. Sie sichern den regionalen Bauern die Existenz. Ausserdem ist absolut geil, dass dort Produkte verkauft werden, die ein Schweizer nie kaufen, geschweige denn essen würde. Hackfleisch, auf dem Fliegen sitzen, Würste, in denen jedes Teil des Tieres verarbeitet wurde, Käse, der so uralt aussieht, dass man meint, er würde sich selbstständig bewegen. All das liebe ich, denn es gibt jedem Produkt einen einzigartigen Geschmack. Allerdings ist dies jetzt bedroht, da Regierung und EU alles hygienetechnisch regulieren wollen.

So erfahre ich, dass eine alte Frau, die seit 50 Jahren von selbstgemachtem Käse lebt, diesen nicht mehr verkaufen darf, weil er den Bestimmungen nicht entspricht. Hier wird mir klar, dass alle „wissenschaftlichen“ Erkenntnisse bezüglich Ernährung und Hygiene absoluter Schrott sind. Würde man diese erst nehmen, wäre es klar, dass die Franzosen seit Jahrhunderten ausgestorben sein müssten. Die Mär von der gesunden mediterranen Küche ist unhaltbar, denn hier wird sehr viel Fleisch und Fisch gegessen, alles sehr fett und wenn nicht, dann wird es frittiert. Gemüse und Früchte sind unbedeutende Beilagen und das Brot nur aus Weissmehl. Ebenfalls wird viel Zucker konsumiert und zu allem noch sehr viel gesoffen. Und gegessen wird alles, Verfalldatum  hin oder her, solange noch kein Verwesungsprozess sicht- oder riechbar ist. Vergessen wir also alle Experten, die sowieso alle von der Industrie bezahlt werden, eine Erkenntnis, die ich zwar schon lange hatte, aber hier wird sie sichtbar, denn die Menschen sind unübersehbar gesund, wenn auch viele eher übergewichtig, aber Lebensfreude und mangelnder Stress scheinen sehr vieles auszugleichen.

Meine Ernährung ist preisabhängig einfach, vor allem Fischkonserven, beim Metzger billige Wurst (vor allem aus Schweins- und Kalbsköpfen – sehr wohlschmeckend), Brot und Wein. Gehe ich einmal essen, so ist ganz klar ein normales Restaurant angesagt, denn für 2 Euro mehr bekommt man hier ausgezeichnete Speisen, im Vergleich zu „billigen“ Snackbars, in denen kleine Portionen Fleisch mit in altem Öl gemachten Frites überdeckt werden.

Jetzt sind die einzigen auf dem Weg relevanten Themen wie Essen, Defäkation, Schlafen und Laufen abgedeckt. Nun das letzte, zumindest für mich wichtige Thema, das Rauchen. Zigaretten kosten hier 5-7 Euro, Tabak und Selbstdrehen ist kaum merklich billiger. Vor meinem Aufbruch und in den ersten zwei Wochen des Weges dachte ich eigentlich, dass sich dieses Thema irgendwann automatisch von allein erledigen würde. Doch weit gefehlt, mein Körper hat der Sucht nicht befohlen aufzuhören, er hat sich einfach der Situation angepasst, und ich konnte trotz starken Konsums am Morgen und Abend Berge gehen ohne befürchten zu müssen, in nächster Zeit zu kollabieren. Auch der Preis schreckt nicht so sehr, denn Schnorren, wenn das Tagesbudget erreicht ist, ist normal geworden. Beim Überlegen, was mich trotzdem zu einem Rauchstop bewegen könnte, fällt mir eigentlich nur ein Grund ein. Mit dem ersparten Geld könnte ich mindestens zwei Kinder in der Dritten Welt retten. Doch das geht erst Zuhause wieder, hier würde ich das Geld doch nur in mehr Luxus umsetzen. Auch die Bedeutung des Wortes Luxus hat sich geändert. Es bedeutet nunmehr: ein Minimum an essen und Tabak im Vorrat, Wein zur Belohnung am Abend, einen gewitterresistenten Ort zum Schlafen, einmal pro Woche Körperpflege und ab und zu ein gutes Gespräch. Wenn ich auch nur einen Bruchteil dessen in mein zukünftiges Leben retten kann, werde ich ein glücklicher Mensch sein. Dieses zukünftige Leben wird vor allem durch eines geprägt sein. Mal dir keine Pläne oder guten Vorsätze. Denn ein Grundgedanke des Christentums und die Basis des Taoismus ist die Tatsache, dass alles seine Zeit hat (Prediger?), und dass alles fliesst, bestätigt mich auf meiner Reise Tag für Tag. Und so schiebe ich die Gedanken, die sich mit der Zeit nach meiner Heimkehr beschäftigen (und die natürlich beständig und hartnäckig auftauchen) ziemlich leicht zur Seite. Denn wenn man nicht weiss, ob man den heutigen Tag überlebt, ist es ausgesprochen unsinnig, sich über das Leben in den nächsten Jahren Gedanken zu machen. (Für diejenigen, die den versprochenen spirituellen Tiefgang vermissen, sei hier vermerkt, dass alles bisher Geschriebene durchaus dazu gehört, denn das Allzumenschliche und banal Alltägliche sind ebenso wichtig wie tiefgründige, mystische Erlebnisse, ja es ist eigentlich ein und dasselbe.

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, Teil 12

Der Pilger erreicht Spanien. Lesen Sie von seinen ersten Erfahrungen in Spanien.

10.6.2007
Pamplona. Nach einem Tag Spanien weiss ich zweierlei: Erstens, dies wird das Land der Mammut-Touren, und zweitens, am Abend der Hort der Glückseligkeit. Die Gewaltsmärsche werde ich deswegen machen, weil ich eigentlich genug vom Wandern habe – ich weiss, ein Widerspruch. Aber ich will nun möglichst schnell nach Santiago, um nach dem täglichen „Weiter geht’s" eine völlig leistungsfreie Phase zu haben. Das heisst, dass jetzt täglich zunächst ein Marathon angesagt ist. Und ich sehe, dass ich die –kurzen – Abende werde geniessen können, denn es ist hier alles wirklich sehr billig, also ist mir ein Belohnung gewiss. Dazu kommt noch eines: In Pamplona angekommen sitze ich mitten im Verkehrsgewühl von Down-Town, noch abseits der, wie ich später feststellen werde, nur in Superlativen zu beschreibenden Altstadt. Und, oh Männer dieser Welt, vergisst die Geschichte von den schönen Französinnen, hier in Pamplona spielt die Musik. Für ca. zwei Stunden sitze ich hier mit offenem Mund und gläsernen Augen. Es ist, als hätte Gott die Frauen dieser Gegend einzig und allein nach meinen Vorstellungen geschaffen. Der geneigte Leser merkt, dass meine längst entschlafen geglaubte Libido inzwischen wieder in vollster Blüte steht, und dies trotz – oder wegen? – der körperlichen Strapazen. Nun denn, ich bin Realist genug um zu wissen, dass diese Wunderwesen mit grosser Sicherheit leider nicht auf alte, immer noch zu dicke Männer stehen. Apropos Gewicht, ich habe schätzungsweise 10 kg verloren, aber das sind immer noch 10 kg zuviel. Zumindest aber sehe ich seit langer Zeit wieder einmal, was ich beim Pinkeln in Händen halte. Doch auch dieses Problem wird sich irgendwann in Wohlgefallen auflösen. Nachdem ich eine Herberge gefunden, geduscht und mit einigen Pilgern geredet habe (wie immer das Gleiche: Schmerzen da und dort, welche Strecken sie zurückgelegt und weiter zu bewältigen haben) wende ich mich mit einer Flasche Wein unter den Armen der Altstadt zu. Und siehe da, unzählige, v.a. junge Leute bevölkern die Strassen, Parke und Mauern. Die Getränke werden in den vielen leeren Bars gekauft und das Leben geschieht unter freiem Himmel. Viele sprechen Englisch und so komme ich mit ihnen ins Gespräch. Bemerkenswert ist, dass trotz reichlichem Alkoholkonsum und einigen Joints niemand wirklich besoffen ist und alle extrem friedlich und fröhlich sind. Da die Herberge – wie alle in Spanien – um 22h schliesst, muss ich das lustige Treiben allerdings zu früh verlassen. Noch etwas zu den Preisen, in einem Supermarkt war ich allerdings bisher noch nicht. Ein Pack Zigaretten 2.30 bis 2.80 €, eine Flasche Wein in einer Bar 3 bis 4 €, wenn man ein Pilgeressen bestellt 8-9 €, der Wein ist gratis, Kaffee 1 €, Carachillo 1.50 €. Ich beabsichtige, das alles in nächster Zeit reichlich zu geniessen.

11.6.2007
Hier in Spanien ist man in einem Strom von Pilgern gefangen. Es sind Unmengen mehr als noch gestern, vor allem sind viele Spanier dabei, die erst ab Reconvalles angefangen haben, auch viele andere starten erst dort. Ich habe zuvor versprochen, nichts mehr über das Wandern zu schreiben, aber wie irgendwo vorher gesagt, es ist unsinnig auf diesem Weg (und überhaupt im Leben) Pläne zu machen oder sich etwas vor zunehmen. Oh, schon nach einem Tag sehe ich, wie das Pilgern in der Masse funktioniert. Nach sehr kurzer Zeit bekommt man einen Tunnelblick, man sieht nicht mehr, wer an einem vorbeigeht und wen man überholt. Bei mir kommt noch hinzu – ich weiss nicht, ob ich das schon erwähnt habe – all mein Denken tendiert zum Nullpunkt hin, irgendwo in einem Nebenzimmer meines Hirns spielt eine Musikdose Lieder (aus meiner Jugendzeit, Hannes Wader, Arbeiterlieder, Volkslieder, Janis Joplin mit Bobby McGee und Mercedes Benz), die Texte, seit z.T. vierzig Jahren nicht mehr gehört oder gesungen, erscheinen auf wundersame Weise wieder. Zudem funktioniert wieder, was ich in langen Jahren des Studiums der Kampfkünste gelernt habe: Man kann Schmerz einfach ausschalten. Somit laufe nicht ICH, ES läuft von alleine. Dennoch mag ich diesen Massenaufmarsch nicht, aber es gibt keine Möglichkeit auszuweichen. Doch ist das Tagesziel (für jeden verschieden) erreicht, herrscht Volksfeststimmung. Obwohl langes Anstehen für Dusche und WC für alle Zuhause ein Grund zum Ausrasten wäre, läuft hier alles ruhig, friedlich und mit viel Humor ab. Ich schätze inzwischen doch den Komfort einer Herberge, obwohl ich das Alleinsein unter freiem Himmel bevorzuge. Ein Zwiespalt, der nicht gelöst, von Tag zu Tag neu entschieden werden muss. Jetzt wollte ich gerade Englisch weiterschreiben, weil ich kurz unterbrochen wurde. Das Sprachwirrwarr ist wahrlich babylonisch. Es gibt unzählige Nordländer, viele Deutsche, Franzosen, Spanier, aber keine Schweizer mehr. Die meisten sprechen Englisch (ausser Franzosen und Spaniern), aber vieles wird in mehreren Sprachen gleichzeitig erklärt. Zwei deutsche Frauen haben mir gesagt, dass sie oft, ohne es zu merken, Englisch miteinander reden. Insofern ist der Jakobsweg tatsächlich, wie in einigen Büchern beschrieben, historisch gesehen der erste Schritt zu einem wirklich vereinten Europa. Ja, es ist wirklich so, dass alles friedlich abgeht. Trotz vieler Probleme und Verständigungsschwierigkeiten habe ich in dieser Menge noch nie Streit oder auch nur ein böses Wort gehört. Nein, man hilft sich wo es geht mit Übersetzungen, Medikamenten und vielem mehr – oder auch nur mit einem Lächeln.

Michael Blattert

Tagebuch eines Pilgers, letzte Folge

Der Pilger durchwandert Spanien und ist beglückt von Land und Leuten - doch da taucht ein unerwartetes Problem auf.

???
Ich glaube, ich habe mich in der vorhergehenden Datierung deutlich geirrt. Da ich die herumliegenden Zeitungen sowieso nicht lesen kann, vergesse ich auch immer, auf das Datum zu schauen. Aber wie schon unser Freund Albert E. sagte, sind Zeit und Raum relativ. Also versuche ich gar nicht erst, die zurückliegenden Eintragungen neu zu datieren, ab jetzt gibt es nur noch Geschehnisse, denn wenn ich es später lese ist es völlig irrelevant, was wann und wo geschehen ist. Nun, ich denke, die Tage werden zukünftig ziemlich gleichförmig verlaufen, denn wenn ich rückkehrenden Pilgern begegne sagen alle, dass sich der Pilgerstrom, je näher man Santiago kommt, eher noch mehr konzentrieren wird.
Noch etwas zu Spanien: Hier ist alles so cool und locker wie in Frankreich (Ladenöffnungszeiten, Toleranz, Freundlichkeit und vieles mehr), aber auch viel gepflegter, sauberer und kultivierter. Die „Schiessene“ sind sauber und laden ein zum Sitzen, in den Bars gibt es eine grosse Auswahl an Tapas und anderen Spezialitäten (davon später mehr), und wenn jemand sieht, dass du irgendwie hilflos bist, versucht er dir beizustehen (Aussprache usw.). Wie mir ein in Frankreich lebender Kanadier erklärte, liegt das daran, dass Spanien in den letzten zehn Jahren einen extremen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat. Hier wird überall gebaut und renoviert und die Autos sind neu und sauber. Gut, letzteres ist nicht mein Ding, aber was soll‘s. Was noch auffällt ist die Kinderliebe hier. Und damit meine ich nicht nur die auffallend grosse Zahl dickbauchiger Frauen, sondern vor allem die Zärtlichkeit eines jeden gegenüber Kindern und die Tatsache, dass am Abend viele Männer mit ihren Kindern auf den Spielplätzen sind. Mit Sicherheit ist Spanien nicht das gelobte Land, aber Schweizer und vor allem Deutsche könnten hier sehr viel lernen. Und politisch, soweit ich es hier beobachten kann, ist Vaterlandsliebe hier etwas ganz anderes als bei uns (CH und D). Wenn man hier Graffiti sieht, heisst es „Viva la Republica“  und nicht „Spanien den Spaniern“. Ok, im Baskenland ist es etwas anderes, aber sie haben von Franco gelernt. Nun ja, ich werde mit Sicherheit hier auch Negatives erleben, aber inzwischen sehe ich es so, dass dieses das Positive erst richtig ans Licht bringt, wenn auch meistens – leider – sehr viel später.

???
Na schön, ich sollte obiges nicht mehr erzählen. Die Blasen sehen ausgesprochen eitergefüllt aus, die Haut ist gerötet und geschwollen. Jeder, dem ich es zeige, sagt, ich müsse sofort zum Arzt, aber ich denke, die Zeit und die Natur heilt alle Wunden. Da ich heute, soweit ich es beurteilen kann, wieder einen Marathon gelaufen bin, erscheint es mir trotz der Schmerzen (nicht mehr Jucken) nicht so schlimm.
Doch nun zum Erfreulichen. Nachdem ich in der Herberge war (das musste sein) und dort alle anderen wie tote Fliegen herumlagen, ging ich noch in die einzige Bar. Dort kam nach kurzer Zeit ein Radfahrer an, Martin aus der Nähe von Braunschweig, und nach 10 Minuten reden wussten wir beide, dass dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft war. Er ist der erste Pilger, dem ich von meiner Krankheit erzählen konnte und der mir aus seinem Leben erzählte. Da ich um 22h in der Herberge sein musste und er mit dem Velo noch weiter wollte, ging das Ganze zu früh zu Ende, aber wir wissen, dass wir uns wiedersehen werden und wenn nicht, zumindest über Internet oder Telefon in Kontakt bleiben werden. Auf jeden Fall habe ich einen neuen alten Freund zu den wenigen, die ich bis jetzt habe, und die Umarmung am Schluss war sehr herzlich. Das klingt, als ob ich jetzt plötzlich schwul geworden wäre, aber es war einfach schön zu sehen, dass es noch Männer gibt, die ähnlich, wenn auch nicht gleich, denken wie ich. - Hey, alles klar, ich bin nicht schwul, er auch nicht, auch wenn sich alles anhört wie eine Liebeserklärung. Doch was kümmert es mich, was andere denken.

???
Die andere Sache ist wirklich ernst geworden. Aus kleinen Eiterbeulen sind grosse Beulen geworden. Ich freue mich inzwischen, enge Unterhosen zu tragen, denn obwohl das meiste an meinen Unterschenkeln ist, sind auch die Oberschenkel betroffen, und ich wage nicht, mir vorzustellen …
Also ist heute Morgen klar (nach einer nur durch Fieberschübe unterbrochenen, durchschnarchten Nacht), dass es nicht weitergeht. Ab 4h versuche ich zu fahren, but there is no chance, in Spanien nimmt man keine Stopper mit und schon gar keine Pilger. Also laufe ich zur nächsten Bushaltestation (2h) und friere wie eine Sau. Dort angekommen treffe ich auf ein Mädchen aus München mit einem Bänderriss. Wir überlegen, wie es bis zum Arzt weitergehen soll. Meine Ausbildung macht sich bezahlt, den Riss konnte ich problemlos adjustieren. Ich musste Beni anrufen, weil ich finanziell am Ende war, Bus, Kaffee, Wein, Telefon usw… Beni war verärgert, weil ich Geld wollte, ich war verärgert, weil ich mich unverstanden fühlte. Ich bat Beni, meine Tante anzurufen, damit sie Geld schickt. Ich hoffe schwer, dass das klappt, denn sonst sitze ich morgen mal wieder völlig blank da.
Nun denn, das andere ist getan. Die gelben Beulen sind desinfiziert, aufgeschnitten, wieder desinfiziert und verbunden. Soweit ich verstanden habe (leider sprechen Ärzte in  Spanien kein Englisch), sollte ich mich zwei Tage lang nicht bewegen. Doch scheiss drauf, ich will morgen weiter.
PS: Ich sitze hier am Ufer eines Flusses, halbwegs ein Dach über dem Kopf, eine Flasche Wein und Antibiotika in demselben und deshalb ist meine Schrift schlimmer als … (nicht mehr zu entziffern)

Michael Blattert
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